Zeugnissprache: “Stets zur vollen Zufriedenheit“

Was ist eine durchschnittliche Bewertung?

Das Problem:

Bei Zeugnisprozessen ist der Durchschnitt die Peilmarke. Möchte der Arbeitnehmer ein überdurchschnittliches Zeugnis haben, muss er darlegen und beweisen, inwiefern seine Führung und Leistung überdurchschnittlich war. Umgekehrt muss der Arbeitgeber entsprechende belastbare oder sogar überprüfbare Tatsachen darlegen, wenn er den Arbeitnehmer unterdurchschnittlich bewertet hat. Die schwer lösbaren Fragen lauten nur: Wie fixiert man den Durchschnitt und wie belegt die eine oder die andere Seite ihre Wertung, nämlich das Abweichen vom Durchschnitt? Deswegen entscheidet sich bereits viel damit, wer die Beweislast hat.

Der Fall:

Eine Zahnarztpraxis beschäftigte 2010/2011 eine Arbeitnehmerin als Empfangsmitarbeiterin, Rezeptionsmitarbeiterin und Bürofachkraft. Sie erhielt schließlich ein Arbeitszeugnis mit der zusammenfassenden Beurteilung sie habe die ihr übertragenen Arbeiten „zu unserer vollen Zufriedenheit“ ausgeführt. Die Arbeitnehmerin beanspruchte vor den Gerichten zusätzlich das Kontinuitätskriterium „stets zu unserer vollen Zufriedenheit“.

Die Entscheidung:

Das Arbeitsgericht Berlin und das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg haben sich auf den Standpunkt gestellt, rein statistisch könne eine gute Leistungsbewertung heute nicht mehr als überdurchschnittlich angesehen werden. Ein Gut sei mittlerweile der Durchschnitt. Deswegen müsse der Zahnarzt darlegen und beweisen, weshalb die Arbeitnehmerin so unterdurchschnittlich nur „zur vollen Zufriedenheit“ geleistet habe.

Diese Vorinstanzen bezogen sich auf eine Studie des Lehrstuhls für Wirtschafts- und Sozialpsychologie der Friedrich Alexander Universität Erlangen Nürnberg aus dem Jahr 2011. Ausgewertet wurde 802 Arbeitszeugnissen aus den Branchen Dienstleistung, Handwerk, Handel und Industrie. Demnach entsprechen 38,8% der Zeugnisse der Leistungsbewertung 1 oder 1,5 des üblichen Schulnotensystems. Weitere 48,5% der Zeugnisse sind den Noten 2-2,5 zuzuordnen, 11,6% den Noten 3-3,5 und nur 0,6% der Schulnote ausreichend (4), nur noch 0,5% sind noch schlechter. Die Darlegungs- und Beweislast wurde dem Zahnarzt auferlegt und er unterlag deswegen. Die geforderte Klausel „stets zur vollen Zufriedenheit“ sei eine knapp befriedigende Leistungsbewertung und man könne statistisch davon ausgehen, dass diese nicht der Durchschnitt sei. Abweichungen nach unten habe er nicht bewiesen.

Ganz anders sieht es das Bundesarbeitsgericht. Einigkeit besteht noch darin, dass die Klausel “zur vollen Zufriedenheit“ als mittlere Note der Zufriedenheitsskala gilt. Es komme aber nicht auf Statistik an, denn in diese flössen auch Gefälligkeitszeugnisse ein, welche dem Wahrheitsgebot widersprechen. Beansprucht ein Arbeitnehmer eine bessere Schlussbeurteilung, muss er im Zeugnisprozess seine entsprechende Leistung vortragen und gegebenenfalls beweisen. Dies gilt selbst dann, wenn in der einschlägigen Branche überwiegend gute („stets zur vollen Zufriedenheit“) oder sehr gute („stets zur vollsten Zufriedenheit“) Endnoten vergeben werden. Die Arbeitnehmerin habe im konkreten Fall also die Darlegungs- und Beweislast, denn „stets zur vollen Zufriedenheit“ sei überdurchschnittlich. Unter Zugrundelegung der neuen höchstrichterlichen Maßstäbe muss das Landesarbeitsgericht den konkreten Sachverhalt noch einmal neu beurteilen.

Kommentar:

Es ist ein Zeugniskult entstanden. Umgangssprachliche Wortbedeutungen gelten hier nicht mehr. Arbeitszeugnisses geben allenfalls noch objektiv Auskunft über die Art und den Umfang der vorherigen Tätigkeit, aber sind als Bewertung der Leistung und Führung im Betrieb unbrauchbar. Sie werden auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr ernst genommen. Deswegen sollte vor allem Wert auf eine genaue, sachliche Tätigkeitsbeschreibung und die berufliche Entwicklung des Arbeitnehmers gelegt werden, welche sich auch konkret darlegen und beweisen lässt und an welche Folgearbeitgeber anknüpfen könnten. Zeugnisse sollten für Arbeitnehmer ein Empfehlungsschreiben auf dem Arbeitsmarkt sein, aber diese Funktion haben sie wegen der üblich gewordenen gestelzten, wohlwollenden aber zugleich wahren, wolkigen Zeugnissprache mittlerweile verloren. Es wird abgerechnet und nicht abgelöst. Schade, dass die Arbeitsgerichtsbarkeit sich darauf einlässt.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18. November 2014 (9 AZR 584/13).

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